Die Mär der digitalen Zukunft

 

Von Petra Huth, Anwil

 

Kennen Sie die Geschichte vom Kaiser, der keine Kleider anhatte? Solche Märchen bleiben aktuell. Der Kunde ist König – dank Digitalisierung ein Märchen ohne jeden Wahrheitsgehalt. Beruflich bekomme ich fast nichts anderes mehr zu hören, Deep Learning, Blockchain-Technologie und Künstliche Intelligenz. Aber sobald ich das Büro verlasse, bricht die SBB-App zusammen, kann man in der Reinigung nicht mit Karte zahlen oder muss der deutschen Bundesregierung alle vier Jahre wieder neu beweisen, dass frau wählen darf. Der Ernstfall tritt ein, wenn einem die Identifikationskarten gestohlen werden: Eine intelligente Verkettung meiner Personendaten würde mir dann nicht viele Gänge ersparen, sondern vor allem den Photomathen am Bahnhof, wo man in einem solchen Moment verblüffende Ähnlichkeit mit einem aufgespiessten Ferkel hat. Und – es würde Steuergelder sparen, weil Digitalisierung von Daten tatsächlich Parallelschlaufen bei Ämtern abschaffen kann. 

 

Zurück zum Märchen vom Kaiser: Erstens, ist es noch keine künstliche Intelligenz, wenn mir ein Computer, dessen Mitarbeit ich sonst sehr schätze, wochenlang blaue Pullover anbietet, bis er endlich merkt, dass ich vielleicht einmal im Jahr Pullover kaufe. Zweitens, wenn schon künstliche Intelligenz, dann bitte zu meinen Gunsten, also in Richtung intelligente Verkettung der Information von der Migrationsbehörde bis und mit E-Voting.

 

Digitalisierung bis jetzt heisst nämlich vor allem, dass die Wirtschaft den Kunden als Gratis-Mitarbeiter einspannt. Die berühmte Telefon-Helpline wird durch freundliche, in der Regel viel zu entspannt und zu jung aussehende Bilder von Menschen ersetzt, die einem von einer poppigen Website entgegen lächeln und suggerieren, man sei willkommen. 

 

Natürlich ist man das nicht. Ergo landet man in der Ecke „Fragen und Antworten“, wo man garantiert die eigene Frage nicht findet. Und dann versuchen Sie mal einen real existierenden Firmenvertreter ans Telefon zu bekommen. Man kann sich glücklich schätzen, wenn es in Krakau oder Tirana einen Poolmitarbeiter gibt, der einen mit einer Ticket-Email in eine Warteschleife abschiebt. Genau das nennen Marketingstrategen dann das individualisierte Kundenerlebnis. 

 

Kurz: Ich bin für den Kundenstreik. Ich favorisiere die Idee meines Schwagers, der meint, man könnte den Staat dazu zwingen, sich zu benehmen, indem man sich kollektiv weigert, Steuern zu zahlen. Gut er ist Italiener, die Schmerzgrenze liegt also viel tiefer. Aber meine neue Form von Konsumstreik hiesse z.B: Man weigert sich weitere neue Joghurtsorten anzunehmen. Marken, die keinen telefonischen Kundenempfang mehr anbieten, boykottiert man und kauft schlicht weniger online. Man kann sich ganz digital übers Netz ein Ranking zur Kundenfreundlichkeit von Firmen erstellen lassen. Dort kann sich der geplagte Konsument orientieren, wo er noch im Zentrum steht und wo er zum Umsatzesel degradiert wird. Frei nach dem Motto: Der Kunde wird wieder König – dank kundenzentrierter Digitalisierung.